Im Zuger Kalender von 1945 ist eine Erzählung von Wolfgang Zürcher aus der Pestzeit von 1628/29 abgedruckt.

Das letzte Kreuzlein

Unter dem blassblauen Himmel eines schönen Herbstmorgens durchfurchte, von zwei kräftig geführten Rudern bewegt, ein leichter Nachen den glatten Spiegel des Zugersees. Die schmucke Häuserfront der kleinen Stadt Zug mit ihren runden, eckigen und spitzen Türmen verengte sich rasch dem zurückgewandten Blick, während die herbstliche Landschaft ein farbenbuntes Bild ums andere entfaltete.
   Zwei junge Zuger, der Studiosus medicinae Paul Wickart und der Diaconus Jakob Hafner, steuerten aufrecht und mit langgezogenen Schlägen. Sie hatten ihre beiden Studienfreunde Martin Schorno von Schwyz und Rudolf Epp von Altdorf, welche gestern von Altdorf kommend, auf der Durchreise in Zug eingetroffen waren, zum Verweilen bewogen, ehe sie zum letzten Mal ins Semester nach der deutschen Stadt Würzburg ziehen würden. Schorno und Epp war die Zuger Einladung nicht ungelegen gekommen. Bequem im Mittelteil des Nachens sitzend begnügten sie sich, in der sicheren Aussicht auf währschaftere mittägliche Genüsse, vorderhand mit der Betrachtung von der Schönheit von Gottes freier Natur.
   Das Kirchlein von Oberwil lag hinter ihnen. Der Nachen fuhr nah am schilf- und buschgesäumten Ufer, unweit dessen nur hin und wieder die Giebel eines einsam gelegenen Hofes zwischen den Bäumen hervorblickten. Und darüber gingen weit die dicht bewaldeten Hänge des Zugerberges. Schon spielten die braunen, rötlichen und goldenen Töne durchs gedämpfte Grün des Herbstwaldes, der sich da, an der engsten Stelle des Sees, beidseitig in den Fluten spiegelte. Der Bergwald links war durch das felsverklüftete Tobel des Lotherbaches zerrissen. Die schäumenden Bergwasser des wilden Gesellen mussten sich aber dem Zwang der Menschenhand fügen und das Rad der dortigen alten Mühle drehen, ehe sie in den See rollten.
   Der Nachen war jetzt in den oberen Teil des Zugersees eingefahren. Das Bild der Landschaft hatte sich stark gewandelt. Vor den Blicken der Freunde erhob sich die königliche Bergwelt der Rigi, fast das gesamte mittägliche Gesichtsfeld einnehmend. Nur weit zurückliegend hinter ihren Ausläufern drängten sich Zinnen und Zacken von Fels und schimmerndem Eis im bläulichen Dunst der Ferne.
   Am Ufer reihten sich liebliche Buchten. Zwischen üppigem Gebüsch und vielen Obstbäumen guckten heimelige Wohnstätten hervor. Weinreben bedeckten die Häuserwände, rankten von Pfahl zu Pfahl den See entlang und schlugen manchen lauschigen Bogen hin und wieder über den unstet verlaufenden Weg. An steilen, der Sonne zugewandten Halden standen die Weinreben, Stock an Stock, mit prallen Trauben zwischen dem wuchernden Laub. Junge Mädchen machten sich in den mit niederen Mäuerchen umgebenen Weinäckern zu schaffen und füllten die Körbe mit den köstlichen Früchten. Unter mächtigen, rissigen Chestenen-bäumen standen Hutten am Schatten, um die Last der vollen Körbe aufzunehmen. Kräftige Burschen schwangen die Hutten auf die Rücken und brachten sie zur Trotte. Dunkle und helle Jauchzer lösten sich aus den Kehlen und hallten übers herbstlich frohe Weingelände von Walchwil.
   Von dort, wo etwas erhöht, wenige Häuser um das Kirchlein, den Mittelpunkt der Vogtei Walchwil der gnädigen Herren von Zug, geschart waren, ertönte silbernes Mittagleuten. Die beiden Zuger liessen die Ruder sinken und wandten wie ihre Freunde, ein stilles Ave auf den Lippen, den Blick hinan zum Kirchlein.
   Paul Wickart deutete zu einem von weitästigen, hohen Chestenenbäumen überschatteten Haus auf einem nahen Ufervorsprung hinüber. Die schmucke Front mit den sauberen Fenstern und den lustig bemalten Giebelläden, durch die unmittelbar davon am See liegende Schiffhütte halb verdeckt, sah recht einladend aus.
"Seht das Wirtshaus zum Engel, allwo unsere gnädigen Herren von der Stadt Zug, so sie den obrigkeitlichen Geschäften der Vogtei Walchwil recte oblegen sich mit Röteli und säuerlichem Walchwiler regalieren. Ist zwar bas nicht die Jahreszeit der Röteli, aber ich will dafür gutstehen, dass Euch die Engelwirtin mit leckeren Fischlein zu traktieren weiss, dass ihr dessen nie mehr vergessen werdet".
   "Soll dem hospitalen Hause alle Ehre widerfahren," meinte schnalzend der Urner Musensohn Epp und strich über jene Gegend seines langen mageren Leibes, die noch von wenigen üppigen Gastmählern zu zeugen schien. Der heitere Schwyzer Schorno aber nahm seine neben sich liegende Laute, griff in die Saiten und sang: "Auf Brüder, lasst und lustig leben, auf dass das ganze Haus mag beben", während der Nachen, von wenig Schlägen getrieben, in die Schiffhütte des Wirtshauses zum Engel hineinglitt.
   Im Schatten der alten Chestenenbäume beim Engel herrschte die Geruhsamkeit der mittäglichen Stunde. An den Tischen vor dem Wirtshaus sassen wenige Reisende, die zumeist bei einem Schoppen Walchwiler vom mitgeführten Mundproviant zehrten. Die Freunde liessen sich ein wenig abseits in einer lauschigen Rebenlaube nieder. Zwischen den Ranken öffnete sich ihnen der Blick auf das sonnenflimmernde Blau des Sees: "Man kann nicht immerfort studieren, man muss zuweilen lustig sein, Frau Wirtin rasch einen Humpen Wein"!
   Des Schwyzers kecke Weise blieb nicht ungehört; die Angerufene, des Michel Hürlimanns, des Engelwirten Hausfrau Anna Heinrich, hatte sich schon eilfertig eingefunden, um nach dem Begehren der jungen Herren zu fragen. Paul Wickart nahm sich als Gastgeber seiner Freunde des dringlichsten Bedürfnisses so fürsorglich an, dass vor jedem der Studiosi im Handum-drehen eine Kanne kühlen, hellen Walchwiler Rebensaftes stand.
   Wer hatte die gewichtigen Kannen so sicher und behend an ihren Platz gestellt und war nach einem leise geflüsterten "Prosit"! ebenso flugs wieder verschwunden? Dass selbst die jungen Musensöhne, so doch für derlei Erscheinungen einen geschärften Blick haben, den holden dienenden Geist kaum ins Auge zu fassen die Weile hatten.
   Als des Engelwirten Töchterlein Eva wieder aus dem Hause trat, diesmal eine mächtige zinnene Schüssel mit Tellern obendrauf tragend, konnte sie sich den Blicken nicht mehr so leichten Kaufes entziehen.
   Im hübschen Gesichtchen des wohl achtzehnjährigen Mädchens verbreitete sich die feine Röte zarter Jungfräulichkeit. Die leichte Scheu der Erregung überwindend, straffte sie die auch im schweren faltigen ländlichen Rock und im bauschigen Mieder schlanke Gestalt und setzte in anmutiger Gewandtheit den Gästen Essgerät und Essen vor.
   Gedämpfte Balchen, von zerschmolzenem Anken mit würzigen Kräutern köstlich getränkt, waren der lieblich in die Nasen steigende und mundende Inhalt der grossen Schüssel. Und als diese Labsal, vom säuerlichen Walchwiler spritzig begossen, den Weg des irdischen gegangen war, schwebte die hübsche dunkelhaarige Eva auch schon heran, nun eine flache Platte vor sich tragend mit knusprig gebackenen, die Mäuler aufsperrenden und die Schwänze ringelnden Egli. Hatte die Eva zu den Balchen noch fein zurückhaltend gelächelt, so liess sie jetzt ihrem Mädchenlachen unbefangenen Lauf, wie die goldgelben Egli Stück um Stück zwischen den Zähnen der schmunzelnden Gesichter verschwanden.
   Die gute Stimmung des Freundeskreises wurde durch das leckere Mahl und den süffigen Walchwiler mächtig angetrieben.
   "Hätt' mir nicht träumen lassen, dass sich am Zugersee so sein leben lässt", komplimentierte der lange Urner Rudolf Epp seine Zuger Freunde. "Vorab den Walchwiler muss man loben. Ist ein wundervolles Wässerlein, die Verdauung zu prozedieren. Lasst uns ihm, wie sich's gebührt, eine Laudatio singen". Martin Schorno griff bei dieser Aufforderung schwungvoll in die Saiten und nach einem kurzen Einspiel schallte es kraftvoll aus dem Kreise:

"Der liebste Buhle den wir han,
er hat ein hölzins Röcklein an
und leit beim Wirt im Keller.
Er hat uns auch schon Trunken g'macht,
doch Fröhlichkeit uns heut gebracht,
all's durch sein Kraft und Eigenschaft.
Prosit Walchwiler Rebensaft"!

   Selbst der würdige Diakon Jakob Hafner hatte begeistert in das Lob des säuerlichen Walchwilers eingestimmt. Aber als ob ihm der feuchten Fröchlichkeit nun Genüge getan schien, machte er den Gefährten den Vorschlag, einem ernsteren Gedanken Raum gebend, zum Kirchlein hinauf zu wallen. Paul Wickart rief der Wirtin und liess sich von ihr die gesamte Zeche auf ein Schiefertäfelchen, das an einem Chestenenstamm hing, ankreiden und tat seine Schuldigkeit. Mit sichtlichem Bedauern erhoben sich Epp und Schorno, nicht ohne angelegentlichst nach der hübschen Eva Umschau zu halten. Aber das Mädchen schien sich nicht zeigen zu wollen.
   Der Weg zum Kirchlein führte steil hinan längs einem munteren Bächlein. Das Kirchlein stand beherrschend inmitten des kleinen Gottesackers der Walchwiler Vogtei auf einer flachen Terrasse. In seinem Inneren war dämmeriges Halbdunkel und Kühle. Der Blick der aus dem Vorzeichen Heraustretenden ging über die sonnigen Weinäcker und die Chestenenwäldchen der steilen und saftigen Halden, über den unten im milden Herbstlicht glänzenden See, zu den jenseits aufsteigenden Berglehnen.
   Auf dem Rückweg trafen die Gefährten auf ein aus den Weinäckern kommendes Mädchen mit einem schweren Korb praller Trauben am Arm.
   Es war Eva. Sie reichte den jungen Männern freundlich lächelnd von den Früchten. Paul Wickart schaute lange in ihre auf ihn gerichteten dunklen Augen, bis sie verwirrt den Blick senkte. Ein Gefühl nie empfundener Seligkeit durchströmte seine Brust ....
   Inzwischen war es spät am Nachmittag geworden. Wollten die beiden Zuger mit ihren Gästen für die Rückfahrt gute Weile lassen und dennoch vor Anbruch der Dämmerung beim Städtchen einlaufen, dann war keine Zeit mehr zu verlieren.
   Als Paul Wickart des Engelwirten Eva abschiednehmend die Hand drückte, suchte er vergeblich etwas zu sagen, was ihr mehr hätte bedeuten können als Worte, wie man sie bei solchem Anlass zu tauschen pflegt. Auch der Blick des Mädchens wich ihm aus.
Aber vielleicht galt dieser letzte Gruss, den das Mädchen mit der winkenden Hand dem enteilenden Boot nachsandte, doch einzig ihm allein! ....
So versuchte Paul Wickart sich im Stillen zu trösten.

*******

   Man zählte den 15. Augusti, das Fest Maria Himmelfahrt anni Domini 1628. In der heimeligen Stube des Wirtshauses zum Engel sassen ihrer viere fröhlich zechend um den runden Tisch. Trotz der sömmerlichen Hitze war es angenehm kühl in dem durch die Butzenscheiben mit dem Stifterwappen der gnädigen Herren des Rats einer löblichen Stadt Zug nur dämmrig erhellten Raum.
   "Beim Eid," meinte wichtig der Basche Roth, ein wetter- und trinkfester Reisknecht, indem er den in einem Zug geleerten Becher auf den Tisch setzte, "tu unseren Walchwiler Tropfen nicht verachten. Hättet aber anno 26 mit dem Regiment unseres Obristen Conrad Zurlauben in Bünden sein sollen. War zwar keine strube Aktion, dafür haben uns gar feine Gesellen treulich und lustig vergnügt. Ich mein' den Churer Wein, so der Bischof in seinem Keller hütet, und den köstlichen Veltliner. Der hat in Bünden allerorts eine ganz besundere Consideration, und bei allen Heiligen, s'ist auch ein Sorgenbrecher wie keiner hier im irdischen Jammertal".
"Will's gern glauben," höhnte lachend Hans Sidler, der Müller beim Lotherbach, "an einem ewig durstigen Gesellen, wie Du einer bist, haben alle Heiligen ihre Gewalt verloren, ohne den absunderlichsten, der im Zechbecher lockt".
   "Müssen wohl zusammengehen, der Durst und das Reislauen," warf der Geselle gleichmütig hin, "was wisst ihr schon von allem Lärm und Streit in der weiten Welt? Könnt' ungeschoren doch von Kriegsgedränge, Hunger und Pestilenz auf eurem Gütchen leben, mit einem ehrbaren Weib, derweil....".
   "Verschwört Euch nicht," fiel dem Basche Roth unversehens eine Stimme in die Rede aus einer Ecke der Stube, wo von der Tafelrunde bisher unbeachtet, ein Wanderer zu einem Halben Wein seinen Käs mit Brot verzehrte. "Die Zeiten sehen nicht danach aus, als ob der Eidgenossenschaft jegliches Strafgericht Gottes erspart bleiben könnte".
Die Zecher musterten den Fremdling neugierig.
   Der liess sich nicht beirren und, seine Zuhörer ernst ins Auge fassend, fuhr er fort: "Gesetzt den Fall die grossen Herren und Potentaten, so angeblich um des Glaubens willen einander bekriegen, liessen unserer Orte unangefochten, droht doch ein anderes nicht minder trauriges Unheil in unsern Landesgrenzen. Wisset, dass in Italia, zu Mailand und in anderen Städten dortzuland, eine entsetzliche Pestilenz, so der Beulentod genannt, grassiert. Doch vernehmet, was mir selbsten jüngst widerfahren ist".
   "Bin da vor etlichen Tagen aus der Grafschaft Tirol kommend spät zu nächtlicher Stunde ein einem Dorfe der Landvogtei Sargans angelangt, und in der Herberg mich allsogleich zu Ruhe gelegt. Am anderen Morgen früh haben sie im Dorf mit grosser Bestürzung eine Frau zu Grabe getragen, so in der Nacht am Beulentod verschieden war. Mein Gastwirt schien mir von diesem Ereignis so sehr bedrückt, als hätte man die Leiche aus seinem Hause geschafft. Ich habe ihn aufzumuntern versucht. Er aber schüttelte in einem fort den Kopf und seufzte, dass es einen Stein hätte erweichen können. Mich dauerte der Mann in seinem unbegreiflichen Kummer und meine Reden mögen in ihm Vertrauen zu mir erweckt haben. Denn er gestand mir eine gar erschütternde Erscheinung, so sich ihm wenige Tage zuvor geoffenbart hatte".
   "Ich lag," erzählte der Mann, "zu mitternächtlicher Stunde schlaflos auf meinem Bett, als sich auf der Gasse vor der Kirche her vielstimmiges Beten vernehmen liess. Rasch aufspringend, fuhr ich mit dem linken Fuss in ein Hosenbein und eilte ans Fenster. Vor meinen erschaudernden Augen im fahlen Mondlicht zog von lauter mir wohlbekannten Leuten, Männer, Frauen, Jünglinge, Jungfrauen, Kinder, durch die Gasse, wohl die Hälfte aller Dorfleute. Am Ende des langen Zuges kam einer allein, mit den Händen die linke Hosenseite am Leib hinaufraffend, dieweilen er das linke Hosenrohr am Boden nachschleppte. Als ich ihm ins Antlitz schauen konnte, erkannte ich meine eigenen Züge. Nun wusste ich, dass ein grosses Sterben kommen würde. Heute früh haben wir das erste Totenopfer begraben. Das letzte werde ich selber sein".
   Da mir der Gastwirt also den Ursrung seiner Kümmernis vertraut hatte," schloss der Wanderer seine Erzählung, hab' ich mich eines Schauderns nicht erwehren können. Hab' nach wenig Umständen abzurechnen begehrt, mein Felleisen geschnürt, und bin straks meines Weges gezogen. Kein Christenmensch wird über die Erscheinung des Totenvolkes spotten wollen, die Kündung soll sich allzeit in einem baldigen grossen Sterben erwahrheitet haben".
Dem Andreas Metziner von Gosselingen und dem Christen Rust und auch dem Müller Sidler am runden Tisch war die Rede des Fremden ernüchternd in die Knochen gefahren. Sie wussten nicht gleich, was dazu sagen und liessen gedankenvoll die Köpfe hängen.
   "Brrr," machte Basche Roth, "für derlei traurige Affären weiss ich ein probates Mittel," und mit einem Sprung die Türe aufreissend lärmte er hinaus: "Wein her, eine volle Kanne! Wo seid Ihr, Jungfrau, machet rasch; es gilt den Trübsinn flugs hinabzuspülen".
Eilfertig brachte Eva das gewünschte und setzte die schwere, bis an den Rand gefüllte Kanne, die sie mit beiden Händen dahertrug, auf den Tisch, um ebenso rasch zu verschwinden, wie sie gekommen war.
   Die Becher stiessen aufs neue zusammen. "Ein unschuldiges Kind, des Engelwirten Töchterlein," nahm der Basche Roth das Gespräch wieder auf, und mit einem Blick durchs halbgeöffnete Fenster: "Scheint, so jung sie ist, bereits einen Liebsten zu haben. Wer ist es nur?"
   "Der Doktor Wickart von Zug," antwortete der Müller mit gedämpfter Stimme, "hab' ihn in der Laube sitzen sehen, als ich gekommen bin. Ist freilich nicht das erste Mal, dass er des Mägdeleins wegen allhier einkehrt. Muss ja in die Augen springen, wenn ein derart nobler Stadtherr in die Vogtei reitet und dem Töchterlein eines einfachen Untertanen lieb tut ....".
Der junge Doktor Paul Wickart sass in der Rebenlaube des Wirtshauses zum Engel auf dem gleichen Platz, den er vor bald zwei Jahren als Studiosus an jenem herbstklaren Tag des Weinmonats im fröhlichen Kreise seiner Freunde eingenommen hatte. Wie damals flimmerte das Gold der Sonne auf dem Blau des Sees, wie damals stach der helle säuerliche Walchwiler bei jedem Schluck aus dem kühlen Becher erfrischend prickelnd in die Nase; was aber dannzumalen nur wie ein leises Sehnen durch die Seele geklungen hatte, stand heute in den schönen dunklen Augen der anmutigen Eva wie ein wunderseliges Verheissen.
   Das Bild der jungen hübschen Walchwilerin, welches dem Studiosus seit jener ersten Begegnung unauslöschlich in das Herz gebrannt blieb, hatte auch den gelehrten, in die Vaterstadt zurückgekehrten Doctor medicinae magnetisch noch in seinem Bann gehalten und ihn rasch genug hinauf in die Vogtei Walchwil gerieben. Der ersten Aufwartung im Engel war manch weitere gefolgt. Zwar war es Paul Wickart anfänglich nicht leicht gefallen, die natürliche Zurückhaltung des anspruchslosen Mädchens, der kleinen Untertanin der Vogtei ihrer gnädigen Herren einer löblichen Stadt und Bürgerschaft zu Zug, vor ihm, dem wohlhabenden Doctor medicinae aus alter angesehener Familie zu überwinden. Aber die zarte Neigung, welche seit der ersten Begegnung auch im Herzen Evas, wenn schon unbewusst zuerst, keimte, wuchs und lebte, half der Liebe goldne Brücken über die Kluft von Standes-unterschieden zu schlagen.
Ja, der gross gewachsene, schlanke Doktor Wickart, mit dem männlich schönen Kopf, den lebhaften blauen Augen, den langen, blonden, in die Halskrause fallenden Haaren, dem modisch kecken Schnurr- und Knebelbart, in der kleidsam eng geschnittenen schwarzen Amtstracht des Arztes und, neben ihm sitzend, die natürlicher Anmut hingegebene im frühesten Reiz ihrer Schönheit erblühende Eva, waren, so wie sie sich in der Laube vom seligsten Empfinden bewegt die Hände hielten, ein ausnehmend feines Paar. Das musste sich der eben aus dem Hause tretende Obervogt Fähndrich Heinrich Zurlauben unwillkürlich gestehen.
   Er hatte mit dem die Stelle des Untervogts verrichtenden Engelwirt Michael Hürlimann, der ebenfalls ins Freie trat, in der Nebenstube dringende Amtsgeschäfte zu besprechen gehabt. Errötend zog Eva die Hand aus jener des Doktors und beide erhoben sich.
   "So sehet da, unser liebster Schwäher Doktor Paul Wickart, Gott grüss Euch! Quelle surprise, Euch in unserer weltvergessenen Vogtei zu begegnen," nahm Zurlauben näher kommend das Wort, und mit einem malaziösen Seitenblick auf das in holder Verwirrung dastehende Mädchen, "dazu in so charmanter Compagnie".
   Wickart drückte dem Fändrich wie auch dem hinzutretenden Untervogt unbefangen lächelnd die Hand und lud die beiden ein, am Tische Platz zu nehmen. Sich in das Unvermeindliche fügend, tauschten die Liebenden einen von den übrigen kaum beachteten innigen Blick, als das Mädchen das unter den Männern in Gang gekommene Gespräch benützte, um unauffälig zu verschwinden.
   Zurlauben mochte Wickart zwar an Jahren um einiges nachstehen, was sich jedoch dank seinem von jung auf in französischen Kriegsdiensten erworbenen selbstsicheren Auftreten kaum wahrnehmbar machte. So war der Fähndrich bereits in jungen Jahren von der Bürgerschaft mit der Verwaltung der städtischen Vogtei zu Walchwil betraut worden. Als Freund hoher Geselligkeit liebte er es nicht, allein über Land zu streiten, und daher machte er kein Hehl aus seiner Befriedigung, im Schwäher Wickart einen Weggefährten zum Heimritt ins Städtchen Zug gefunden zu haben.
   Auf dem schmalen Saumweg längs des Zugersees trafen die Reiter nach einer knappen Stunde gemächlichen Trabes durchs Oberwiler Tor im Städtchen ein. Zurlauben hatte unterwegs vorgeschlagen, in der Wirtstube zum Schmutz, drunten beim Landsgemeindeplatz am See noch einen Schoppen zu trinken. Wickart kam das recht gelegen, hatte er doch den Entschluss gefasst, den unerwarteten Zeugen seiner Herzenssache ins Vertrauen zu ziehen.
Der Trott der beiden Pferde schlug hallend durch die menschenleeren Gassen des feiertäglichen Abends. Umso belebter war der Platz bei der grossen Linde am See nebenan, wo die Ratsherren und Bürger ihr übliches sonntägliches Stelldichein hielten. Man vernahm da von den anwesenden Ratsherren allerlei Tagesnachrichten und Neuigkeiten. Selbst in der nahegelegenen Stube des Wirtshauses zum Schmutz waren noch wenige Gäste. Die beiden Ankömmlinge setzten sich in eine Ecke, bestellten einen halben Roten und stiessen mit den Bechern an.
   "Vivant omnes Virgines, alle Jungfrauen sollen leben," setzte Zurlauben bedeutungsvoll halblaut hinzu, wohl um das Gespräch auf jene Dinge zu lenken, die seine Neugierde beschäftigten.
   Wickart lächelte belustigt und erwiderte: "Will Euch gern gestehen, dass ich mein Herz an dieses Mädchen verloren habe".
   "Il y a de quoi! Soll mich nicht wundern," erwiderte Zurlauben. "Das Mägdelein könnt' mir die raison auch nicht übel irritieren. Doch Schwäher Wickart, werdet ihr bedenken müssen, dass sie die Tochter eines Untertanen ist, eines Herbergwirtes und Rötelfischers obendrein. Der zwar als ausnehmend raisonabler und biderber Mann bekannt ist. So Ihr das Mädchen heimzuführen gedächtet in Euer Haus, wird Euer Herr Vater, der gestrenge Ratsherr Wickart, an sotaner aliance ein gar geringes plaisir nehmen".
   "So ist's" bestätigte Wickart, "ich fürchte dass mein Vater am Exemplo im eigenen Hause am allerwenigsten seine conceptiones sich wird ändern lassen. Der casus wird nicht ohne Indignation abgehen. Doch was ich mir von Euch ausbitten wollte: Gebt Euer Wort zu meinen Gunsten ab, so ....".
   Die letzen Worte Wickarts wurden durch den Lärm eintretender Gäste übertönt, die allsogleich die Aufmerksamkeit der beiden gefangen nahmen. Die Leute schienen über Massen erregt zu sein und diskutierten mit bestürzten Mienen. Unter ihnen befand sich der Stabführer Hansjakob Kolin und der Ratsherr Jakob Wickart, welch letzterer, da er der beiden jungen Männer ansichtig wurde, rasch auf sie zutrat.
   "Ich bring' Euch schlechte Zeitung," hub er, ihnen die Hände drückend, an. "Eben machte der Stabführer Kolin die Mitteilung, dass in der Stadt Basel höchst verdächtige Fälle von Pestilenz arriviert wären. Der Stabführer hat die leidige Post von einem Geschäftsfreunde, so in Basel residieret, empfangen".
   Die Schreckensbotschaft hatte damit unvermittelt die Gedanken der beiden jungen Männer in eine andere Richtung gedrängt, mitgetragen von der düsteren Stimmung der die Gaststube füllenden und die Gefahr der Ausbreitung der Pestilenz erörtenden Bürger. In der Erinnerung der meisten von ihnen war die letzte Heimsuchung des Landes durch die fürchterliche Geissel Gottes anno 1611 so lebendig, ob es gestern gewesen wäre. Männiglich wusste, wie auf eiligen Flügeln das Opfer unter Nachbarn und Freunden, oder gar selbst im eigenen Hause zeichnen konnte ....
   Der Wirt zum Schmutz lief mit Kerzenstöcken in der Gaststube herum und stellte die Lichter auf die Tische, denn es begann zu dunkeln.
   Die Gaststube leerte sich nun rasch. Auch der Ratsherr Jakob Wickart und die beiden jungen Männer erhoben sich und traten den Heimweg an, bedrückt und Unheil ahnend, schicksalschweren Tagen entgegensehend.

*******

   In der Tat liessen die ersten Krankheitsfälle im Städtchen nicht lange auf sich warten. Man wusste sich nicht zu erklären, auf welche Weise die Ansteckung von sich gegangen war; ob durch reisende Kaufleute, heimkehrende Kriegsknechte, oder gar kurzerhand durch die Lüfte und den Wind, wie manche behaupten wollten.
   Für den jungen Doktor Paul Wickart war eine Zeit rastloser Tätigkeit im Dienste seiner kranken Mitmenschen angebrochen. Zu jeglicher Stunde des Tages und der Nacht wurde er an die Krankenlager gerufen, so dass er kaum auf die eigene Ruhe bedacht sein durfte. Und doch beschäftigten sich seine Gedanken auf manchem einsamen und nächtlichen Gange mit dem Mädchen Eva. Ueber seine Herzensangelegenheit mit den Eltern zu sprechen schien ihm in einem Zeitpunkt wie jetzt, da jedermann von Sorge erfüllt war, nicht tunlich. Dann musste er wohl handeln, wie er es vor dem Herrgott, dem Gewissen und seiner Liebe für Eva verantworten durfte. Konnte die Pestilenz nicht jeden Tag auch in der Vogtei Walchwil Eingang finden und sein Liebstes auf dieser Welt bedrohen?
   Ein wohl erwogener Entschluss reiste während der düsteren Wochen des Herbstes im Doktor Wickart und wurde von ihm allsogleich in die Tat umgesetzt, wie an Allerheiligen dem Rat aus Walchwil gemeldet wurde, dass Johannes Müller, der Jüngere, als erstes Opfer der Vogtei von der Pest dahingerafft worden sei. Vetter Goldschmied Oswald Wickart hatte unter dem Siegel der Verschwiegenheit den Auftrag bekommen, zwei goldene Ringlein zu fertigen. Eins hatte der dem Doktor nach dem Ringfinger, das andere nach dem kleinen Finger schmieden müssen. An Allerseelen nach dem Seelenamt stand der Doktor in der Werkstatt des Meisters und fragte nach den Ringlein.
   "Das Ringlein mit dem Namen Paul ist fertig," erwiderte Meister Wickart, "aber ins feinere Ringlein bleibt mir, den Namen Eva einzuschneiden, wie Ihr mir auftruget, Herr Vetter Doktor"!
"Tut mir den Gefallen und macht es gleich fertig," drängte der Doktor.
    "Ei, ei," meinte der alte Goldschmied, sich an den Werktisch setzend, "hat es so eilig als geheimnisvoll, der Herr Vetter mit seinem Verlöbnis. Kann unsereiner Mut machen, wenn noch Leute ans Weiben denken, statt ans Sterben, wie es heute die meisten tun".
   Emsig mit dem Stichel schneidend förderte der Goldschmied die Arbeit und nach einer kleinen Weile, die zwar dem Doktor doppelt so lang geschienen hatte, drehte dieser den schmalen, seiner Liebsten zugedachten Reif beglückt in den Händen ....
   Im Wirtshaus zum Engel in Walchwil wunderte man sich, an diesem trüben, neblichten Allerseelentag den Doktor Wickart zu sehen. Untervogt Michel Hürlilmann und seine Ehewirtin erkundigten sich mit Spannung nach den Ereignissen aus der Stadt. Hatte doch die Pestilenz fast allen Verkehr von Ort zu Ort zu unterbrechen vermocht, sodass auch die Neuigkeiten rarer wurden.
   Der Doktor schilderte das Ueberhandnehmen der Seuche in der Stadt und gab der Befürchtung Ausdruck, dass die Ausbreitung auch in abgelegene Dörfer wohl kaum verhindert werden könne. Wüssten doch die erfahrenen Doctores medicinae auch heute noch nicht genauen Bescheid über alle Arten der Ansteckung. Freilich sei die Absonderung in einsamen Gehöften und im Gebirge wohl die beste Sicherung vor Ansteckung.
Jetzt hielt der Doktor in der Rede inne und blickte das Elternpaar Evas mit tiefem Ernste an.    Dann sprach er langsam und feierlich: "Die Stunde ist so ernst und der Schleier, so die Zukunft verhüllet, gar schwer, dass ich nicht mehr zögern mag, zwei Bitten an Euch zu richten. Ich bin all die Zeit nicht als lockerer Bursche in Euer Haus eingekehrt. Eine ehrliche und tiefe Neigung für Euer ältestes Kind, die Eva, führte mich hierher. Heute möchte ich Euch bitten: Gebt der Eva und mir den Segen zum Verlöbnis"!
   Es blieb ein langes Weilchen still, ehe der Untervogt dem Brautwerber zu bedenken gab: "Herr Doktor Wickart, Ihr seid ein vornehmer und gelehrter Herr und mir will dünken, dass Ihr all die Gedanken, so ich jetzt habe, in Eurem Herzen wohl erwogen habt. Fürchtet Ihr nicht, dass Unterschied von Stand und Namen zwischen Euch und meinem Kinde zu einer unglücklichen machen könnte?"
   "Das mag bei sogenannten standesgemässen Alliancen selbst nicht immer zu verhüten sein," räumte der Doktor gleichmütig ein. Und den Untervogt Hürlimann über den Tisch hinweg mit beiden Händen fassend, schloss er mit fester und jeden weiteren Widerspruch freundlich abschneidender Stimme: "Gestehet, dass Eure Einwände nicht Ablehnung bedeuten und sprechet mir Euer Kind zu in meine Hand".
   Michael Hürlimann gab den Wiederstand gegen die Werbung im Grunde wohl kaum mit Unwillen auf und schlug in die dargebotene Rechte des Doktors ein. Derweil war Mutter Anna auf die Suche nach ihrer Tochter gegangen und führte das in Verschämter Verwirrung errötende Mädchen in die Stube.
   Es grüsste den jungen Mann mit niedergeschlagenen Augen und leiser Stimme. Dieser hatte sich erhoben und nahm der halb ahnenden, halb überraschten Jungfrau die linke Hand und steckte das feine Ringlein an den Finger.
   Ihr dann den grösseren Reif übergebend, sprach er leise: "So Ihr, liebenswerte Jungfrau, durch ein Verlöbnis Euch liebend mir verbinden wollet, dann tuet, wie ich eben getan habe".
Die Jungfrau richtete ihre dunklen Augen einen Atemzug lang voll auf den jungen Mann, streifte langsam und zitternd den Ring an seinen Finger und erhob ihren Blick wiederum mit einem Ausdruck, worin mehr stand als alle Liebesworte der ganzen Welt.
   Da zog Paul Wickart seine süsse kleine Braut in grenzenloser Seligkeit an die Brust, sie scheu und innig auf die Stirn, die Augen und den zuckenden Mund küssend ....
   Ebenso sehr als das Verlöbnis lag den Doktor Wickart eine Sorge anderer Gattung auf dem Herzen. Der Gedanke, die heute gewonnene, zärtlich geliebte Braut vielleicht schon morgen von der grässlichen ansteckenden Pest bedroht und erfasst sehen zu müssen, war ihm unerträglich. Daraus war ihm der Plan gereift, Eva auf ein abgelegenes Gehöft des Walchwiler Berges zu verbringen, bis die Pestilenz sich verzogen hätte. Der Doktor wusste aus früheren Aeusserungen des Mädchens, dass eine Schwester des Untervogts, Dorothe mit dem Bauern Kaspar Röllin auf dem weitab und einsam gelegenen Hofe Winterstein verehelicht war. Wohl überraschte der von Wickart entwickelte Plan die Eltern Evas, aber nach getaner Ueberlegung mussten sie den Gedanken des jungen Mannes beipflichten und konnten seinem Vorschlag noch viel weniger ihre Zustimmung versagen. Andererseits wussten sie, dass Kaspar Röllin und seine Ehefrau die flinke und fleissige Eva ebenso gern und mit offenen Armen ins Haus aufnehmen würden, wie man sie im Wirtshaus zum Engel ungern scheiden sah.
   So mischte sich in die Freude Evas und ihrer Eltern an diesem Allerseelentage schon die Bitternis der nahen Trennung ....

*******

   Paul Wickart war am Abend jenes düsteren Allerseelentages voll seliger Beglückung nach dem Städtchen zurückgeritten. Hatte er sich doch durch das Verlöbnis eine entzückende, süsse Braut verbunden. Weiter durfte er sich zu seiner grossen Beruhigung sagen, dass sie auf dem einsamen Winterstein von Ansteckung so gut behütet sein würde, als es nach menschlichem Zutun überhaupt möglich war.
   Der schwarz Tod herrschte im Städtchen bereits in unumschränkter Gewalt. Eines Abends müde und niedergedrückt nach Hause kehrend fand der Doktor Wickart seine Mutter darniederliegend, den betagten Vater bekümmert an ihrer Seite sitzend. In den wenigen Stunden seiner Anwesenheit hatten sich die Fieber aus einer kaum beachteten Unpässlichkeit und leichten Kopfschmerzen zum rasenden Delirium entfesselt. Dunkle Flecken begannen sich auf der Haut der Erkrankten abzuzeichnen, die von schwüler Hitze und unerträglichem Durst gepeinigt, die Decken von sich reissen wollte und nach Wasser schrie. Bestürzt gebot der Arzt der Magd ihr einen starken schweisstreibenden Tee zu reichen und heilkräftige Kräuter zu kochen. Mit dem Absud derselben begann er unermüdlich die Beulen zu baden. So rann Stunde um Stunde der Nacht dahin, aber die Beueln wollten nicht erweichen und der Schweiss nicht kommen.
   "Holet rasch einen geistlichen Herrn", flüsterte der Doktor der Magd zu, die sich eilends entfernte. Inzwischen ging der Atem der Kranken schwer und schwerer. Der Blick ihrer weit geöffneten Augen schien sich in unendliche Weiten zu verlieren und erstarrte ....
   Der eben eintretende Pfarrherr Oswald Schön konnte die Sterbende nur noch mit dem heiligen Oele salben.
   Wenige Stunden später am Vormittag holten die Totengräber den Totenbaum mit der Leiche der Frau Ratsherrin Maria Wickartin und führen zum grossen Grabe unweit des Beinhauses zu St. Oswald.
   Tag für Tag nahm daselbe die Leichen neuer Dahingeraffter auf, um dann rasch mit einer Tünche ungelöschten Kalkes und einer Schicht Erde bedeckt zu werden. Nur der die Totengebete sprechende Geistliche und die Personen der eigenen Familie durften dabei sein. So sehr war die Zahl der Opfer des Beulentodes angeschwollen, dass der Vorzug eigener Totenbäume nur betagten Bürgerpersonen und gesegneten Frauen gewährt wurde. Die Leichen aller übrigen Toten, der Hintersassen, Dienstboten, der jungen Leute und Kinder wurden in ein Tuch gehüllt, von den Totengräbern von Haus zu Haus im sogenannten Gemeindesarg, einem grossen eichenen, mit eisernen Bändern zusammengehaltenen Kasten, abgeholt und bei St. Oswald ins gemeinsame Grab geschüttet.
   Als die erste grosse Gruft mit mehreren übereinander ruhenden Lagen von Leichen gefüllt und mit Erde zugedeckt war, wurde ein grosses schmuckloses hölzernes Kreuz darauf errichtet.    Eine Inschrift trug den Spruch:
   "Ist das nid e grossi Klag,
   So mengs Dotzend i eim Grab?"

*******

   Aber bereits war nebenan eine neue tiefe Grube ausgehoben worden, um neue Dutzende von Opfern des grossen Sterbens aufzunehmen. Von Anfang des Herbstmonates bis Ende dieses unglückseligen Jahres 1628 wurden im Gemeindebann der Stadt Zug 468 Personen, ungerechnet die Kinder, begraben. Dem nassen, misswächsigen Sommer und kargen Herbst war ein fauler und schneearmer Winter gefolgt. Die Pestilenz konnte daher, von keiner eisigen Kälte gehemmt, erbarmungslos weiter wüten, in den Frühling des neuen Jahres hinein. Am letzten Tage des Märzmonates, als der Doktor Wickart beim Mittagsmahl sass, fiel der Klopfer der Haustüre mehrmals ungestüm aufs Beschläg. Hinter der öffnenden Magd stürmte der Fähndrich Zurlauben in die Stube, den überraschten Doktor am Arm fassend und mit sich fortziehend, dass dieser kaum Zeit fand, den Mantel umzuwerfen und den Hut aufzusetzen.
"Ihr müsset mich ungesäumt accompagnieren, Schwäher Doktor, der Vater ... " und nach einigen Augenblicken des Atemholens berichtete Zurlauben weiter: "Sind da eben noch im Garten promenieret. Da hat der Vater gar kräftig niessen müssen. Hab kaum Zeit gefunden, ihm ein "Helf Euch Gott"! zuzurufen, da ist er auch schon von einem heftigen Fieber und eisigen Frost geschüttelt worden und hat nur mit Nöten an meinem Arm sein Bett aufsuchen können, darauf ich nach Euch lief".
   Sie erreichten rasch den Hof, den ausserhalb der Stadtmauer gelegenen, wohl gepflegten Patriziersitz des Altammanns. Ans Lager des regungslos Liegenden geführt, prüfte der Doktor den Puls, um allsogleich dem Umstehenden durch einen ernsten, langen Blick und ein müdes Zucken der Schultern das befürchtete Ende zu verstehen zu geben.
   Der grosse Staatsmann Konrad Zurlauben war in den reifsten Mannesjahren durch einen Schlagfluss reissend wirkender Pest gefällt worden.
Tags darauf wurde der vermöglichste und einflussteichste Zuger, bloss von den Personen seines Hauses begleitet, in der Familiengruft bei St. Oswald still und in Eile beigesetzt.

*******

  An einem taufrischen Morgen im Brachmonat mähte der Osli Müller, des Erletschwander Bauern jüngerer und lediger Bruder, ein steiles Mattli, fast auf der Mitte zwischen der Erletschwand und dem Winterstein. Hin und wieder stellte er die Sense ab auf den Boden, beschattete mit der Hand seine Augen und blinzelte hinauf zum Gnippen, wo die Sonne eben prächtig aufgegangen war, folgte dann sich drehend mit dem Blicke dem bewaldeten Berghang, bis der schmale Bergweg nach dem ganz nahen Bergheimet zum Winterstein vor seinen Augen lag.
  "Hali ho dio" jodelte es endlich von dorther und schon drängte sich am Weg ein munteres Trüpplein von Kühen, den weiter oben gelegenen Weiden zustrebend. "Kannst verflixt anmächelig jauchzen, Maitli," meinte der Osli zur dahinter kommenden Hüterin. "Wer hat Dir das gelehrt, Seejüngferli?" "Der Seemuggi," lachte das hübsche junge Mädchen zurück und wischte sich ein widerspenstiges Büscheli dunkler Haare aus dem gebräunten Gesichtchen.
"Solltest ein Bergjümpferchen werden. Die Luft ist viel gesünder als am See. Da oben gibts keine Pestilenz," spann der Osli den mit viel Ueberlegung angeknüpften Faden der Unterhaltung eifrig weiter. Aber das Seejüngferchen Eva schüttelte den Kopf und gab zurück, das schmale Reifchen an der linken Hand in der Sonne blitzen lassend: "Schau Osli, das Ringlein! Das zieht mich bald wieder hinunter zu See"!

 

 

 

  Da senkte der Osli den Kopf und liess die Sense scharf ins durtige Berggras sausen ....
  Eva hatte sich unter einen alten, zerrissenen Chestenenbaum gesetzt. Ihre Augen folgten sinnend dem blassen, aus dem Dache des Hauses zum Winterstein steigenen Räuchlein und verloren sich im dunklen Blau des tief unten ausgebreiteten Sees. Seit dem Wintermonat lebte sie hier oben beim Oheim Kaspar Röllin und der Base Dorothe. Vorerst hatten ihr die kurzen Tage und langen Abende des Bergwinters endlos erscheinen wollen. Manche Träne der Sehnsucht nach dem Elternhaus und dem Geliebten war beim Spinnen ins geschäftig schnurrende Spinnrad gefallen. Einmal dann, zu Ostern hatte sie sich hinuntergewagt ins Kirchlein, zur Messe, das mit Rosmarin und Wachholdergeist getränkte Schnupftüchlein vors Gesicht drückend. Dass der schwarze Tod nun auch in Walchwil in den meisten Häusern eingekehrt war, musste Eva da von ihrem Vater erfahren. An ein Heimkehren war daher nicht zu denken. Bekümmert hatte Eva sich wiederum auf den Rückweg begeben, war hinaufgestiegen, an den Höfen des Berghanges vorbei, durch wilde Tobel des schäumenden Loherbaches, der zwischen riesigen Blöcken und bemoosten Felstrümmern sich durchzwängend zutal toste.
Fürwahr, dieser wilde Geselle schied die jenseits seiner zerklüfteten Schlucht liegenden Berghöfe, vorab den höchst gelegenen, einsamen Winterstein, weitab vom Treiben des Verkehrs. Dadurch, und vielleicht auch durch den verstiebenden, die Luft reinigenden Gischt der schäumenden Wasser mochte er der Pestilenz den Weg dorthin verwehren.
   Seit der Bergfrühling die sonnigen Halden des Winterstein mit bunten Blüten bestreute und den Wind den würzigen Ruch der Blumen und Kräuter verwehte, strömte frischer Lebensmut durch das Herz des Mädchens. Herzhaftes Mittun bei Heuet hatte ihm das Gesichtchen dunkel gebräunt. Bald würden die süssen Bergchriesi reifen.
  Freilich, wenn unter dem alten Chestenenbaum beim Viehhüten die Gedanken ungestört durchs Köpfchen gehen konnten, mischte sich gar zu leicht leise Traurigkeit darein. Träumersich spielte Eva mit dem schmalen Reif am Finger und schwere Tränen tropften auf ihr Mieder ....
  Darüber verging der Sommer und es war Herbst geworden. Das Weinlaub an der Talwärts gewandten Hauswand auf dem Winterstein begann sich zu färben. Den Trauben freilich hatte es den nassen Sommer hindurch an der Sonnenglut gemangelt, um zur richtigen Süsse auszureifen.
  An einem Nachmittag des Weinmonates stand, wie aus den Boden gewachsen, der zwölfjährige Micheli, Evas Brüderchen aus dem Engel, an der Ecke des Gartenhages und rief nach seiner Schwester. Rasch zur Stelle, wollte sie auf den Knaben zueilen. Der aber er wich ängstlich zurück und schrie beschwörend: "Komm nicht näher, Eva, die Pest ist daheim. Die ...." und in einem herzbrechenden Schluchzen gingen die weiteren Worte unter.
  Nach langem Zureden erfuhr das Mädchen, dass die Mutter mit dem schwarzen Tode rang und dass der Knabe ohne Vorwissen der Eltern sich aufgemacht hatte, um Eva davon zu unterrichten. Aber als Micheli dieses Geschäft erfüllt wusste, liess er sich nicht länger aufhalten und machte sich in eiligen Sprüngen davon, seine Schwester als eine Beute fassungslosen Schmerzes und die dazugetretenen Leute vom Winterstein in erschauderndem Schrecken zurücklassend.
   Was war zu tun? Kaspar Röllin und sein Eheweib sahen ratlos zu, wie das trostlos schluchzende Mädchen mit seinem Leid in die Schlafkammer flüchtete.
  Durfte es zögern, zur Mutter zu eilen, die sicherlich seiner Hilfe bedurfte? Auch auf die Gefahr hin, selber von der Pestilenz angesteckt und dahingerafft zu werden? Es würde wohl das Ende seines jungen Liebesglücks bedeuten. Bei diesem Gedanken krampfte sich sein liebendes Herz in unsäglich wehem Schmerze zusammen.
   Die ganze lange Nacht stritten in Evas Herzen Pflichtgefühl der Kindesliebe und inniges Verlangen einer unschuldigen Mädchenseele nach höchstem menschlichen Glück wider einander. Doch ehe der Morgen graute, war der bittere Kampf ausgefochten.
Leise schnürte das Mädchen seine sieben Sachen in ein Bündel. Und allen möglichen Einwänden aus dem Wege gehend, schlich es auf den Zehenspitzen aus dem Hause. In den Bäumen pfiffen die ersten Vögel, da Eva ihre entschlossenen Schritte talwärts lenkte ....

*******

   In der Elternkammer des Wirtshauses zum Engel lag des Untervogts Michel Hürlimann Eheweib Anna Heinrich auf den dritten Tag mit der Beulenpest ringend darnieder. Auf des Untervogts Bitten war der Doktor Wickart am Vorabend noch von der Stadt heraufgeritten und hatte der Kranken schweisstreibenden Tee und gegen die Beulen das Baden mit dem Aufguss gekochter Heilkräuter verordnet. Die ganze Nacht durch war die Unglückliche in hohen Fiebern gelegen. Dem Untervogt und der alten Magd Barbara war es mehrmals nur mit dem Aufgebot handfester Gewalt gelungen, die nach Kühlung schreiende, vor Durst gepeinigte Kranke im Bett zurückzuhalten. Gegen Morgen waren die Fieber gesunken und die Jungfer Barbara hatte sich daran gemacht, die am Körper der jetzt eingeschlummerten Pestkranken aufgetretenen Beulen durch ununterbrochene Waschungen mit dem Kräuterbad zum Erlinden zu bringen, indes sich Michel Hürlimann zu kurzer Ruhe auf eine nebenstehende Lagerstatt geworfen hatte. Dem in die Kammer eintretenden Mädchen Eva schnitt der Anblick der unglücklichen, von der Pest bereits stark entstellen Mutter tief ins Herz, aber es hatte die Kraft gefunden, dieser Begegnung gefasst entgegenzutreten. Evas feste und beherrschte Haltung verfehlten nicht ihre beruhigende Wirkung auf die erschrocken sich erhebende Alte und den durch das Kommen des Mädchens aus seinem Schlummer in die bittere Wirklichkeit zurückgeführten, entsetzten Vater.
   Mit ruhiger Selbstverständlichkeit jeder Auseinandersetzung schon im Keime das Wort abschneidend, traf das über Nacht zur Heldin gereifte Mädchen die gegen die Ansteckung gebräuchliche Vorsichtsregel der Waschung von Gesicht und aller anderen unbedeckten Körperteile mit Essig und bestimmte die verblüffte Magd, unverweilt der nötigsten Ruhe zu pflegen. Mit herzhafter Hingabe fuhr sie fort, die Beulen der pestkranken Mutter zu baden und der Erwachenden durch Einflössung heissen Tees den Schweiss zu fördern.
So fand der am Nachmitag wiederkehrende Doktor Wickart voll Entsetzen seine Braut am Lager ihrer offensichtlich gezeichneten Mutter.
   "Eva"! Nur ihren süssen Namen vermochte er anklagend aus seinem Innern hervorzuwürgen. Unsäglich niedergeschlagen blickte er auf seine in blühender Schönheit vor im stehende Braut.
Um jeden Hauch des Todes von ihr fernzuhalten hatte er sie von sich verbannt, sie schmerzlich gemieden, und nun musste er sie an der Brutstätte der fürchterlichen Seuche wiedersehn! Aber Paul Wickart war edel genug um zu erkennen, dass dieses hochgemute Mädchen in seiner schlichten Seelengrösse gerade so, nicht anders hätte handeln können.
   Voll Ehrfurcht nahm er seine kleine braune Hand und hielt sie lange fest in der seinen ....
Dann beugte sich der Arzt über die Kranke. Die Krankheit nahm an ihr den grausigen, unterbittlichen Verlauf. Ein widerlicher Schweiss von abscheulichem Geruch trat aus den sich entzündenden und mählich brandig werdenden Geschwüren. Eitervergiftung und Blutzersetzung mussten daraus entstehen. Durch das Einträufeln brandstillenden Balsams suchte der Arzt der fortschreitenden Zersetzung zu steuern.
   "Könnet Ihr uns Hoffnung geben?" wagte der Untervogt den sich erhebenden Arzt zu fragen. "Euer Weib ist in Gottes Hand," erwiderte er mit unmissverständlicher Gebärde. "Menschliche Kraft ist ohnmächtig. Durch die angewendeten Mittel vermögen wir wohl Linderung zu bringen. Wendet sie weiter an. Doch vermeidet die Geschwüre zu berühren. Gar leicht laufet Ihr Gefahr angesteckt zu werden. Zögert nicht, der Kranken das heilige Sakrament reichen zu lassen".
So hatte der Doktor Wickart geschlossen und Abschied genommen. "Behüt Dich Gott, liebste Braut," flüsterte er, Eva innig die Hand drückend und sie mit einem leidvollen zärtlichen Blick umfassend. So gerne er noch länger verweilt hätte, er durfte es nicht, harrte man doch in allzu vielen Häusern mit angsterfüllter Ungeduld des Beistandes des Arztes.
   Noch am gleichen Abend erschien, vom Knaben Micheli gerufen, der würdige Herr Kaplan Schmid, Kaplan der Vogtei Walchwil, und tröstete die inzwischen ruhiger gewordene Kranke mit den Sterbesakramenten gar mildreich aus. So wie der allgegenwärtig hilfreiche Doktor Wickart keine Anstrengung scheute, um die leibliche Not der Opfer der Beulenpest zu lindern, war dem seeleneifrigen Priester kein Gang zu weit und keine Stunde zu spät, um den ihm anvertrauten Seelen seines weitläufigen, mühsamen Kirchenspiels den letzten geistlichen Trost zu spenden. Fast alle Wohnstätten der Vogtei, vom Ufer des Sees bis hinauf zu den abgeschiedenen Heimen des Walchwilerberges, hatten in dieser langen bitteren Zeit des grossen Sterbens den edlen Priester über ihre Schwelle treten sehen, um den Sterbenden beizustehen und die Ueberlebenden aufzurichten.
   Die Nacht ging vorüber, aber des Untervogts Weib erlag der Beulenpest nicht, wie es doch fast stets am zweiten oder dritten Tag nach der Ansteckung geschah. Die Kranke hatte wohl die Krise überwunden, aber die Entkräftung blieb. Düster und traurig folgten sich die Tage des Winters. Eva musste mit schwerem Herzen zusehen, wie die leidende Mutter trotz der liebesorgenden Pflege der Abzehrung verfiel und langsam, hoffnungslos dahinsiechte.
   Nach Lichtmess war es soweit, dass ihr der Kaplan aufs neue eilig die Wegzehrung reichen musste und zwei Tage später gab des Untervogts Eheweib, umringt von den weinenden Ihrigen, den Geist auf.

*******

   Im darauf folgenden Frühjahr setzte die Schneeschmelze auf dem Berge spät im Märzen ein. Wochenrang regnete es dann in Strömen. Die Bäche donnerten mit reissender Wucht zu Thal, traten über die Ufer und überschwemmten viel Land mit Geschiebe. Doch wie wenn die kaum versiegen wollenden Wassergüsse die verpestete Luft gereinigt hätten, verlor in diesen Wochen der schwarze Tod seine Gewalt, nachdem er in der Vogtei Walchwil allein fünf Dutzend Opfer unter den Boden gebracht hatte.
   An Eva, welche an ihren jüngeren Geschwistern Mutterstelle übernommen hatte, und der Hauswirtschaft vorstand, waren die Anstrengungen, Opfer und alles bittere Leid der vergangenen Wochen nicht spurlos vorbeigegangen. Ihr Gesichtchen war bleich geworden und die Formen ihres Körpers hatten die frühere sanfte Rundung verloren. Und als eines Tages der Doktor Wickart im Wirtshaus zum Engel ankehrte, hoffend die düsteren Erlebnisse der überstandenen Leidenszeit des schwarzen Todes in einem tröstlich beglückenden    Wiedersehen zu vergessen, fand er seine Braut vom Fieberfrost geschüttelt vor. Zu Tode erschreckt hiess er die alte Barbara das Mädchen ins Bett bringen und versuchte dann an seiner Seite sitzend, durch Beschleunigung des Schweissausbruches der Erkrankten das im Körper kreisende Gift zu entziehen. Paul Wickart haderte in seinem Herzen mit Gott. Wollte der Allmächtige von ihm das Opfer der Liebsten erheischen? Dem vor Angst atemlosen Arzt schien sich erweisen zu wollen, dass das Mädchen von der reissenden Pest hoffnungslos erfasst war.
   Die fieberheissen, feuchten Hände suchten die seinen und mit schwacher Stimme bat ihn Eva, den Kaplan rufen zu lassen. Sie wusste also, wie die Dinge standen, dachte Wickart ....
Der Doktor Wickart und der Untervogt verbrachten die ganze Nacht wachend in der Stube des Wirtshauses. An Schlaf wollte keiner denken. Bei der geringsten Veränderung am Zustand des Mädchens sollte die bei ihm wachende Barbara den Doktor rufen
  Beim Grauen des Morgens öffnete sich die Türe, die Magd winkte dem Arzt und flüsterte ihm draussen zu: "Eva verlangt nach Euch, kommt rasch"!
   Der Doktor warf einen forschenden Blick ins Gesicht des Mädchens, griff seinen Puls. Ihm war, als ob eine eiskalte Hand sein Herz zusammenpresste.

 

 

   Vom Gesicht des Mädchens war die Fieberröte fahler Blässe geblichen und der Puls ging langsam. Ein Lächeln verklärte das Antlitz Evas, als Paul Wickart sich über sie beugte und ihre Hände in die seinen nahm.
   "Es wird so kalt," hauchte sie schwer atmend, "Liebster, bleib bei mir, bis ...." Sie vermochte nicht zu vollenden. Es schien Wickart, als ob ihr eben noch so ausdrucksvoller Blick durch ihn hindurch ging in eine unendliche Weite. Das musste die Ewigkeit sein.
   
Paul Wickart ergriff hastig eine Phiole und träufelte der sterbenden einige Tropfen auf die Lippen. Aber die erhoffte Wirkung blieb aus. Wenige Minuten später gab das junge Mädchen seine reine, schöne Seele dem Schöpfer zurück.
   Es war in der Morgenfrühe des 27. Aprilis 1630 Eva, die Tochter des Untervogtes Michel Hürlimann, als letztes Opfer des schwarzen Todes heimgegangen in die bessere Welt ....

*******

   Mehrere Wochen später, an einem schönen Tag des Brachmonats, stand der Doktor Paul Wickart in herbem Leid vor dem Grab seiner Braut im Schatten des Kirchleins zu Walchwil. Goldgelbe Primeln bedeckten den Grabhügel und ein zierlicher Strauch blasser Windröschen rankte am weissen Kreuzchen empor. Die Tagzeiten betend trat der würdige Kaplan Schmid aus dem Kirchlein und näherte sich dem einsamen Beter, als er aufblickte und sich zum Fortgehen anschickte.
   "Gott grüss Euch, edler Herr," sagte der Priester mit respektablem Ernst. "Eure Trauer ist edel und wohlbegründet, den sie gilt in einem würdigen Andenken. Doch wenn ich Euch betrachte, will mir scheinen, dass Ihr Euer Leid gar zu sehr zu Herzen nehmet. Mehr als Euerem Wohlbefinden zuträglich sein möchte. Die in der Gnade Gottes verewiget sind, haben es gut. Ihr aber schauet in die Zukunft. Ihr seid jung; Gott will, dass Ihr Eure Talente nützet zum Bestehen unseres Landes".
   "Ihr habet recht, ehrwürdiger Herr," erwiderte der Doktor, indem er an der Seite des Priesters den Kirchhof verliess. Dann aber, diesen seinerseits in Auge fassend, fuhr Wickart fort: "Trügt mich mein Auge nicht, bedürfet ihr dringend der Schonung und der Ruhe. Man sagt, dass Ihr in diesen Zeiten fast Uebermenschliches geleistet habet".
   "Nicht mehr, als Gott und mein Gewissen aufgetragen haben," wehrte der Priester bescheiden ab. "Bedenket, dass der schwarze Tod in allen Häusern der Vogtei, abgesehen von den einsamen Gehöften Erletschwand und Winterstein, regieret hat. Wie hätte ich einem Sterbenden das heilige Sakrament verwehren können?"
   "Abgesehen von den einsamen Gehöften Winterstein und Erletschwand," wiederholte der Doktor gedankenvoll vor sich her, als er vom Kaplan Abschied genommen und zum Wirtshaus zum Engel hinunter schritt ....
   Vor demselben vertrat ihm unverhofft der Fähndrich Heinrich Zurlauben den Weg. "Welch scharmantes Rencontre," rief dieser erfreut. "Werdet mir doch nicht reüssieren, eine Kanne Walchwiler mitzutrinken". Mit diesen Worten nötigte Zurlauben den Doktor in der Weinlaube Platz zu nehmen.
   Ziemlich einsilbig gab Paul Wickart dem Schwächer Zurlauben Bescheid, als die Becher mit dem säuerlichen kühlen Tropfen aus den Rebenhängen Walchwils zusammenstiessen. Allzu viele selige Erinnerungen rauschten für ihn aus dem rankenden Weinlaub dieses lauschigen Winkels.
   "Wisset Ihr schon," berichtete der Fähndrich, "dass das bürgerliche Amt der Obervogtei abgelaufen ist und ich in kurzem eine Lieutenantsstelle in der Gardekompagnie meines Vaters selig antrete? - Wird ein anderes Leben sein, als die üblen Zeiten, so wir hier zumalen stattsam passieret haben".
   Gratuliere zum Avancement, Schwäher Lieutenant," brachte der Doktor höflich an. "Merci, Schwäher Doktor! Uebrigens wie wär's wenn Ihr gleich mitkommen würdet nach Frankreich? Würde Euch den tristen souvenirs entrücken, so Euch hierzulande molestieren". "Kann sein," gab der Doktor achselzuckend zurück und liess seine Augen zwischen den Weinranken durch über den Platz vor dem Wirtshaus schweifen.
   Micheli, Marti, Vreneli und Bartli, des Untervogts Kinder waren eben spielend auf den Platz gesprungen. Das fünfjährige Vreneli hatte ein Sträusschen Windrosen gepflückt. Als es den Doktor Wickart in der Weinstube erspähte, eilte es freudig auf ihn zu und streckte seinem grossen Freund die roten Röschen mit glühendem Gesichtchen lieblich zu.
   Paul Wickart zog das Kind auf seine Knie und herzte es mit glücklichen Augen. Zurlauben schaute lächelnd zu und sagte bedeutungsvoll: "Ei sehet doch, Schwäher Doktor, die roten Rosen blühen wieder. Ergreifet sie und freuet Euch daran"!